Eigene Werkkommentare

Ein aktuell entstehendes Stück (“san”) für das Berliner Ensemble Adapter

Es handelt sich um ein Stück für die Quintett-Stammbesetzung des Ensemble Adapter: Flöte(n), (Bass)Klarinette, Harfe, Klavier, Schlagzeug. Hinzu kommen live-Elektronik und Zuspiel. Das Stück wird eine Länge von ca. 30 Minuten haben.

In der Komposition sollen Extrembereiche innerhalb textureller und klanglicher Möglichkeiten ausgelotet werden. Gestalten, die in rasender Geschwindigkeit und hoher prozessualer Komplexität durch den Raum fliegen, münden in schlichte Klangbänder von scheinbar endlos gedehnter Zeit.

Die Instrumentalbesetzung bietet eine weite klangfarbliche Palette zwischen hohem Verschmelzungsgrad und größtmöglicher Heterogenität. Hier interessiert mich ein stufenloses Changieren zwischen den Farbstufen des Ensembles als Metainstrument einerseits und der Abgegrenztheit fünf einander widerstrebender Klang-Individuen andererseits.

Der große Perkussivitätsanteil innerhalb der Besetzung ermöglicht mir die Umsetzung einer scharf konturierten, dicht verwobenen Rhythmik, die von zähen Mehrklängen der Bläser ummantelt, durchwirkt und verkleistert wird.

Ich arbeite, wie in all meinen Stücken der jüngeren Vergangenheit, mit verschiedenen Möglichkeiten der Mikrotonalität. Ich nutze die stimmungstechnische Flexibilität der Harfe und montiere diese mit den temperierten Klavier- und Malletklängen zu einem mikrotonal/spektralen, exotischen Perkussionsorganismus. Auch in den Blasinstrumenten nütze ich neben dem Gebrauch von Mehrklängen die vielfältigen mikrotonalen Möglichkeiten.

Prozessuale Bewegungs- und Entwicklungsformen sind bei diesem Stück für mich von primärem Interesse. Zusätzlich zur 4-kanaligen Realisation von Zuspiel und live-Elektronik möchte ich meine Erfahrungen aus dem Bereich elektroakustischer Komposition auf die rein instrumentale Besetzung übertragen. Indem ich Filterungen, Morphings, Klangsynthesen und Strukturen von hoher Geschwindigkeit und Komplexität herstelle, soll die von Menschenhand gespielte Musik Allusionen aus dem Bereich meiner eigenen elektroakustischen Klangkontexte evozieren. Es entstehen irritiernde Übergänge zwischen „echter“ und evozierter Elektronik. Ensemble und Elektronik verschmelzen zu einem Metainstrument.

N.N. für Ensemble Adapter wurde durch das Kompositionsstipendium des Berliner Senats gefördert. Die Elektronik wird in großen Teilen im Sommer 2012 am ICST in Zürich entstehen.

S. J. Dragićević
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Sascha Janko Dragicevic – „Symbiosen“ für Fagott (auch Kontraforte), Saxophon (Alt und Bariton), live-Elektronik und elektronische Zuspielklänge.

Für Johannes Schwarz (Fagotte) und Sascha Armbruster (Saxophone)

Mit „Symbiosen“ setze ich eine langjährige und fruchtbare Zusammenarbeit mit Johannes Schwarz, dem Fagottisten des Ensemble Modern fort. Gemeinsam mit dem Saxophonisten Sascha Armbruster entstand das Projekt „Soundspaces“. Für diese Duobesetzung existierte bislang praktisch keine Literatur. Die Einbeziehung von Elektronik unterstreicht den fortschrittlichen Charakter des Projekts.

In „Symbiosen“ werden Ideen, die ich bereits in „Autogamie“ für Fagott und Elektronik umgesetzt habe in eine neue Richtung weiter entwickelt. Auch diesem Stück liegt ein formaler Code zu Grunde, aus dem heraus sich innerhalb von drei Zeitebenen (2×10 Formteile, bestehend aus jeweils 10 Phraseneinheiten, bestehend aus jeweils 10 rhythmischen Bausteinen) alle musikalischen Elemente und Gestalten herleiten. Ähnlich wie in Autogamie existiert auch hier eine ideelle Analogie zu selbstähnlichen Figuren und zur fraktalen Geometrie. Allerdings folgen die musikalischen Charaktere nicht dem strengen dualistischen Prinzip statisch/dynamisch von „Autogamie“, sondern werden einer ständigen, sehr freien Permutation unterzogen.

Ich habe versucht, dem Charakter der beiden Instrumente auf den Grund zu gehen. Aus der Gegenüberstellung der beiden Charaktere generiert sich eine (geheime) imaginäre Handlung, welche sich zwischen den extremen Polen Abstoßung und Verschmelzung bewegt.

Ziel war es, immer wieder „symbiotische“ Verschmelzungen der zwei sehr unterschiedlichen Instrumente zu erreichen. Dabei übernehmen beide Instrumente wechselweise die Aufgabe von „Wirt“ und „Symbiont“, oder spielen mit gleicher Kraftverteilung.

Mich interessierte hier besonders, die entsprechenden Übergänge kompositorisch auszuloten, und zwar instrumental und elektronisch.

Jedes Instrument definiert einen eigenen elektronischen Klangraum. Auf dieser Ebene vollzieht sich vergleichbares, wie auf der rein instrumentalen: Die jeweiligen elektronischen Klangräume folgen ihren Solisten wie eine Aura. Sie vollziehen die gleichen Prozesse von Anziehung und Abstoßung bis hin zur Verschmelzung.

Die Interpreten wechseln jeweils zwischen Alt- und Baritonsaxophon, sowie Fagott und Kontraforte.

Neben live erzeugten Manipulationen der Instrumente erklingen vorproduzierte Zuspielklänge. Diese generieren sich ausschließlich aus Aufnahmen dieser Instrumente, gespielt von Sascha Armbruster und Johannes Schwarz, denen das Stück auch gewidmet ist.

„Symbiosen“ wurde als Kompositionsauftrag gefördert von der Kunststiftung NRW.

Große Teile der Elektronik wurden am Institut für Musik und Akustik des ZKM in Karlsruhe realisiert, wo ich 2010 als Stipendiat gearbeitet habe.

S. J. Dragićević
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„Strings“ für Streichquartett und elektronische Klänge, Version 2 (2011)

Strings entstand als Kompositionsauftrag der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar. Das Stück wurde speziell für das Minguet-Quartett geschrieben, dem das Stück auch gewidmet ist.

Das Werk besteht aus drei „Sätzen“, die nahtlos ineinander übergehen. Im ersten Satz spielt das Quartett „pur“, ohne elektronische Zuspielklänge, im kurzen mittleren Satz erklingen ausschließlich elektronische Klänge, während die Spieler pausieren, dann, im dritten Satz treffen Quartett und elektronische Klänge aufeinander.

Das harmonische Material des ersten Satzes basiert auf einem Obertonspektrum von Kontra-Es. Helle, nervöse Figuren und gedehnte, liegende Klänge kontrastieren miteinander. Zarte, zerbrechliche Gestalten überwiegen.

Dann behaupten sich mit Beginn des zweiten Satzes die elektronischen Klänge und verdrängen das Quartett, welches noch einen letzten Akkord verklingen lässt. Die mit großer Vehemenz auftretenden neuen Gestalten, sehr konkret in ihrer harmonischen und rhythmischen Textur, lösen sich jedoch stets in geräuschhafte, luftartige Flächen auf.

Mit Beginn des dritten Satzes, mischt sich unmerklich die erste Geige ein, gefolgt von der zweiten. Es entsteht ein sich verdichtendes, allmählich tiefer werdendes Duett, in welches sich Bratsche und Cello zunächst zögerlich, dann mit großer Kraft einblenden. Im anschließenden, von liegenden Tönen dominierten Teil, finden die vier Instrumente zu einer Balance, welche im weiteren Verlauf des Satzes immer wieder durchbrochen wird.

Das Material der elektronischen Klänge generiert sich ausschließlich aus solistischen Streicherklängen, die ich im Vorfeld der Komposition mit Instrumentalisten aufgenommen habe. Große Teile der Zuspielung habe ich am SeaM der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar realisieren können.

Strings versteht sich als „work in progress“, das heißt, dass das Stück in naher Zukunft weitere Überarbeitungen erfahren wird.

S. J. Dragićević
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“Strings” für Streichquartett und elektronische Klänge, Version 1 (2008/10)

2007 wurde ich mit dem Förderpreis beim Internationalen Komponisten-Workshop in Weimar ausgezeichnet. Daraufhin erhielt ich von der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar den Kompositionsauftrag für das vorliegende Stück.

Strings ist gekennzeichnet von leisen, zerbrechlichen Obertonklängen und dicht gewobener Mikrotonalität. Die Gestalten bewegen sich in einem extremen dynamischen Spektrum vom beinahe Verstummen bishin zu jähen Klangballungen. Im Zentrum steht die Idee eines obertonreichen, mit geringem Bogendruck ausgeführten, gleichsam geheimnisvoll flirrenden Streicherklanges. Die Position des Bogens befindet sich in permanenter Veränderung; ein ständiges Changieren zwischen Grifffinger und Steg bewirkt einen biomorphen, fluiden Klang. Die elektronischen Zuspielklänge, die erst nach ca. 6 Minuten einsetzen, generieren sich aus Streicherklängen. Zunächst etablieren sich diese alleine, bringen die live-Spieler für zwei Minuten zum Schweigen. Dann fügen sich die Spieler in den neu definierten elektronischen Klangraum ein und verschmelzen mit diesem zu einem großen Metainstrument.

S. J. Dragićević
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„Aus nächster Ferne – Annäherung an Schumann“ für Klavier solo (2009)

„Aus nächster Ferne – Annäherung an Schumann“ habe ich auf Anregung der mit mir befreundeten Pianistin Susanne Kessel geschrieben. Das Stück ist der zweite Teil des von ihr initiierten Zyklus Kreisleriana 2010 und bezieht sich auf die ersten 37 Takte der Nr.2 aus Schumanns Kreisleriana.

Gleichzeitig ordne ich das Stück als Nr.5 in meinen offenen Klavierzyklus „Strom fliehender Zeiträume“ ein. Dieser Zyklus vereint alle Stücke für Klavier Solo und Klavier mit Elektronik, die ich ab 1992 geschrieben habe und in Zukunft noch schreiben werde.

In „Aus nächster Ferne“ habe ich zum ersten mal „Musik über Musik“ komponiert und diesen Bereich des Denkens für mich als fruchtbares Experimentierfeld entdeckt.

Das Klavierstück nimmt in meinem Schaffen eine Sonderstellung ein, da die Auseinandersetzung nicht mit einem von mir entworfenen strukturellen Konzept, sondern mit einem existierenden Material stattgefunden hat, welches fast 180 Jahre alt ist.

Diese Auseinandersetzung führte bei mir zu einer Neubewertung von Fragen zur Periodizität, einhergehend damit auch zu einem erweiterten, teilweise freieren Verständnis zeitlicher Proportionen.

Meine Absicht war, die Vorlage derart zu filtern, dass das Ergebnis sich ganz und gar in meiner Sprachlichkeit befindet. Gleichzeitig hat es mich gereizt, einen Weg zu finden, periodisch/melodische Einheiten Schumanns zu erhalten und in meine musikalische Grammatik einzubinden. Ein Zitieren oder Collagieren wäre für mich nicht in Frage gekommen.

Anfangs stellte sich für mich die Frage, wie streng ich das gegebene Material in seiner Beschaffenheit als Vorlage unangetastet lassen möchte, um aus der Arbeit an diesem schließlich mein eigenes Material zu destillieren. Ich entschied mich, das gesamte Material der Takte 1 bis 37 chronologisch vollständig zu bearbeiten, mich sozusagen an dieser strengen Vorlage „abzuarbeiten“. Nur so war es mir schließlich möglich, ganz in die Schumann’sche Vorlage einzutauchen und mich gleichzeitig vollständig von ihr zu entfernen.

So werden Schumanns Gestalten und Gesten von mir gedehnt, gestaucht, in eine spektral-harmonische Klanglichkeit geführt, rhythmisch verschoben und demontiert, bis sie in meinem Vokabular angelangt sind. Dabei entstehen an manchen Stellen von mir so genannte „Blasen“, Momente, bei denen aus einer sehr kleinen Schumann’schen Zelle eine ganz neue Gestalt herauswächst. So wird z.B. in den Takten 10 bis 16 aus dem stehenden Akkord eine bewegte Fläche (Bei Schumann Wiederholung von Takt 3), basierend auf einer spektralen Erweiterung des Akkordes; ebenso in den Takten 18 bis 48, in denen das Spiel mit dieser Akkordfläche extrem ausgedehnt wird. (Bei Schumann ist es der Akkord in der Wiederholung von Takt 4)

Das Spiel mit dem Material der Schumann’schen Takte 9 bis 11 dehnt sich bei mir über die Takte 53 bis 66 aus. Die Takte 12/13 bei Schumann verarbeite ich in meinen Takten 67 bis 74. Aber die Takte 13 bis 16 bei Schumann werden bei mir in den Takten 74 bis 78 – durch einen „hinkenden“ Rhythmus verfremdet – schlicht neu harmonisiert, bleiben aber in der melodischen Folge unangetastet. In der folgenden 32tel-Stelle (79-84), die als Element noch einmal wiederkehrt (97-101), verschiebe ich die einzelnen melodischen Schichten Schumanns (Takte 16-20) derart zueinander, dass ein komplexes Geflecht von „inherant Patterns“ entsteht.

Ich denke, aus den unterschiedlichen Techniken im Umgang mit dem Material ergibt sich ein ständiges Changieren in der Wahrnehmung, zwischen Nähe, Ferne und (scheinbarer) Abgelöstheit zur Nr. 2 aus Kreisleriana.

S. J. Dragićević
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“Wasser und Feuer” für Sopran und 6 Instrumentalisten (2000/2008)

Das Stück „Wasser und Feuer“ für Sopran und sechs Instrumentalisten wurde 1999/2000 für das e-mex neue musik ensemble geschrieben und 2001 in Köln mit der Sopranistin Sylvia Koke unter der Leitung von Christoph M. Wagner uraufgeführt.

2008 entstand eine überarbeitete Fassung, die am 25.04.2008 in Köln uraufgeführt wurde.

Es spielte wiederum das e-mex neue musik ensemble unter der Leitung von Christoph M. Wagner, den Sopranpart sang diesmal Marlene Mild. Das von der SK-Kulturstiftung geförderte Konzert stand unter dem Motto „Der Spektralismus und seine Folgen“.

Ich habe versucht, in der Musik den leuchtenden, emphatischen Ton des Celan-Textes einzufangen, nachzuzeichnen und durch Spiegelungen und Lichtbrechungen bis hin zu gleißender, greller Farbigkeit zu steigern.

Die harmonische Klanglichkeit, derer ich mich vor acht Jahren bediente, kam dieser Idee entgegen. Es handelt sich häufig um nicht-oktavierende Skalen, die sich in einer Mischung aus Pentatonik und Ganztönigkeit zu zwölftönigen Feldern auffächern lassen. Diese Felder weisen strukturelle Analogien zu „spektralen“ Feldern auf, benutzen aber keinen Grundton. Auch basiert die Harmonik auf der temperierten Stimmung. (In meinen nach „Wasser und Feuer“ entstandenen Arbeiten spielt Mikrotonalität eine entscheidende Rolle.) Mit diesen Mitteln habe ich versucht, meine Affinität zu „französischer“ Klanglichkeit hörbar zu machen.

Dabei bleibt der Text in seiner Gestalt unverändert. Die Form des Stückes generiert sich aus der Form des Textes, und so entsprechen die Charaktere der einzelnen Formteile meiner Auffassung von Charakter und Ton der einzelnen Strophen. In teils schwindelerregenden Höhen verzahnt sich die Sopranstimme mit dem polymetrischen Geflecht der hochvirtuosen Instrumentalstimmen. Die resultierende Glut hinterlässt am Ende zwangsläufig kalte Asche.

S. J. Dragićević
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„Autogamie“ für Fagott, live-Elektronik und elektronische Zuspielklänge

Version 4 (2005/06) (Länge: 08’51”)

Das Stück “Autogamie” entstand als Kompositionsauftrag der Kunststiftung NRW für ein Solistenprogramm des Ensemble Modern, anläßlich dessen 25-jährigen Jubiläums.

Es wurde speziell für Johannes Schwarz, den Fagottisten des Ensembles, geschrieben, dem es auch gewidmet ist. Die Uraufführung der Version 2, mit Fagott und live-Elektronik, fand am 11.12.2005 in der Ensemble-Modern-Zentrale in Frankfurt a. M. statt.

Die Uraufführung der vorliegenden Version 4 spielte Johannes Schwarz am 23.10.2006 in Köln.

Seither hat J. Schwarz das Stück vielfach international aufgeführt, u. a. beim Festival “Wien Modern” am 01.12.2007 oder zuletzt am 23.04.2010 in der Reihe „Generator“ in Zürich.

Im März 2009 erschien “Autogamie” auf einer Solo-CD von J. Schwarz (SACD: wahlweise 5.1 surround/stereo), als Koproduktion des Ensemble Modern, des hessischen Rundfunks und hr2 Kultur – Kulturpartner des Ensemble Modern (Ensemble Modern / Johannes Schwarz, Fagott / „più“ / EMSACD-002)

Auf diesem Tonträger kann man das Stück wahlweise im 5.1-surround-sound hören, was die komponierte quadrophone Raumdisposition der Klänge ideal wiedergibt, oder in der Stereo-Reduktion.

Kurze Einführung in die formale Idee

Der aus dem Bereich der Biologie entnommene Titel “Autogamie“, zu Deutsch Selbstbefruchtung, bezieht sich auf mehrere Ebenen des Stückes: Zunächst existiert ein formaler Code von 10 Teilen, abwechselnd “dynamischen” und “statischen” Charakters, aus welchem sich alle Zeitparameter und alle musikalischen Charaktere generieren. Diese strenge Primzahlenreihe, die ein verzahntes Fibonacci-Verhältnis aufweist, definiert drei Zeitebenen: 10 große Teile (I), die in 10 Phrasen-Abschnitte (II) unterteilt sind, welche sich wiederum aus jeweils 10 rhythmischen Bausteinen (III) zusammensetzen. (Demzufolge besteht das Stück aus 10x10x10=1000 dieser – im Zusammenhang der formalen Idee – kleinsten denkbaren rhythmischen Zellen.) Alle Teile der drei Ebenen zeichnen sich durch die gleichen Proportionen und Charakteristika aus, sind demnach aufs engste miteinander verknüpft. (Hier existiert natürlich eine ideelle Analogie zum Bereich der fraktalen Geometrie.)

Die beiden Charakteristika: Innerhalb der “dynamischen” Teile dominieren nervöse, unregelmäßige Figuren, in mikrotonalen Strukturen kontrapunktisch dicht verwoben. Es herrscht Ruhe- und Rastlosigkeit, die Gestalten “fliegen” wie wilde Vögel, ohne Erdverbindung (sanguinisch, cholerisch).

Innerhalb der “statischen” Teile finden sich Texturen von flächigem Charakter. Es überwiegen, im Vergleich zu den “dynamischen” Teilen, gedehnte, liegende Klänge. Die Harmonik definiert sich durch “spektrale” Akkordflächen mit weitem klanglichen Ambitus. (Für die Ebene II gilt z.B.: Ein statischer Teil besteht jeweils aus einer dieser Akkordflächen.) Die Gestalten sind klar positioniert im Erdboden verwurzelt. Sie bewegen sich wie Pflanzen, ihre stete Bewegung geht von ihrer unabänderlichen Position aus (phlegmatisch, melancholisch).

Diese gegensätzlichen Charaktere sind, nach meinem subjektiven Empfinden, wie in kaum einem anderen Instrument im Fagott enthalten. Das heißt, dass die Grundidee der sehr abstrakten Struktur meiner subjektiven Fagott-Rezeption entspringt.

Diese Primzahlenreihe, die erstaunlicherweise das Fibonacci-Verhältnis 13 : 8 aufweist und auch von klaren Regelmäßigkeiten in der Fortschreitung der veränderlichen Werte geprägt ist, habe ich für mich, wieder sehr subjektiv, als besonders schön und zwingend entdeckt. Sie spiegelt für mich genau die dramatische Kraft wieder, die mir als Ausgangsidee und Empfindung für “Autogamie“ vorschwebte.

Die Reihe bestimmt die Zeitproportionen der 10 Teile von Ebene I, der 100 Phrasen-Abschnitte von Ebene II, sowie der 1000 rhythmischen Zellen von Ebene III. (In den Ebenen II und III jeweils proportional herunter gerechnet.)

Das bedeutet, dass in dieser Ebene III das Formmodell als Rhythmus perzipiert wird. Eine weitere Unterteilung wäre – in einem musikalischen Kontext – natürlich nicht möglich.

Zusätzlich wird die Abfolge von 5x(1), 2x(4), 1x(5), 1x(3) und 1x(2) in allen drei Ebenen einer ständigen Permutation unterzogen.

Die in ihrer Länge unveränderlichen “statischen” Teile übernehmen im Verlauf des Stückes immer mehr Eigenschaften der wachsenden und schrumpfenden “dynamischen” Teile, können sich aber nie ganz ihrer “Verwurzelung” entziehen.

Bezug zwischen Fagott und elektronischen Klängen

1.) Strukturell

Alle kompositorischen Strukturen der Zuspielklänge generieren sich aus dem Material des Fagott-Soloparts, in zeitlich direkten Bezügen. So sind es in den “dynamischen“ Teilen v.a. sehr dichte und komplexe Kanons, die sich in kleinen Tempoverschiebungen um die Fagottstimme ranken. In den “statischen“ Teilen werden die vom Fagott durchmessenen Spektralklänge erweitert, aufgefächert, durch das Hörbarmachen ihrer Grundtöne klar definiert.

Die Klänge folgen dem Fagott wie der Schweif dem Kometen, sie vollziehen seine Bewegungen nach, umhüllen es, unterstreichen seine Ausbrüche und schweigen, wenn es schweigt.

Diese Eigenschaften gelten natürlich auch insbesondere für die Strukturen, die sich aus den live-elektronischen Manipulationen des Fagottklangs ergeben.

(All dies ein klarer Fall von Selbstbefruchtung.)

2.) Klanglich

Ca. 70 Prozent des Klangmaterials, aus dem sich die Zuspielklänge speisen,

stammen aus Fagottklängen, welche ich im Vorfeld der Produktion mit Johannes Schwarz aufgenommen habe.

Die restlichen ca. 30 Prozent stammen aus Holzbläser-, Kontrabaß-, Schlagzeug-, Klavier- und Harfenklängen, die ich ebenfalls alle selber aufgenommen habe.

Das Fagott begegnet also weitestgehend immer wieder sich selbst, wenn auch sein Antlitz von Fremdkörpern durchmischt, kontrapunktiert, gebrochen, umschmeichelt wird.

Fagott und elektronische Klänge, Soloinstrument und virtuelles Ensemble sollen gemeinsam zu einem Metainstrument verschmelzen.

Also auch auf dieser Ebene findet eine Art von “Autogamie“ statt.

Entstehung / technische Produktion

Zunächst wurde das oben beschriebene Klangmaterial hergestellt. (Aufnahmen für Fagottsamples entstanden am 26.05.2005 in der Frankfurter Ensemble-Modern-Zentrale. Aufnahmetechnik: Hendrik Manook. Die weiteren Instrumentalaufnahmen waren bereits vorhanden.) Dann entstanden die Solostimme, sowie in Skizzen die Strukturen der Zuspielklänge.

Im nächsten Schritt programmierte ich eine Max-MSP-Patch, zur Steuerung der live-elektronischen Effekte. Am 11.12.2005 wurde diese Version 2 mit live-Elektronik in Frankfurt uraufgeführt.

Am aufwendigsten gestaltete sich die Produktion der Zuspielklänge für die vorliegende Version 4, die natürlich – auf Grund der vielen Schichten – einem kompositorischen Prozess für großes Ensemble gleichkommt. Nur handelt es sich um ein quasi virtuelles Ensemble.

Diese Zuspielung entstand Mitte bis Ende 2006 teils am heimischen Rechner, teils im Studio für elektronische Komposition der Musikhochschule Köln. (Realisationstechnik: Marcel Schmidt)

Die Programmierung der elektronischen Klänge erfolgte mit dem Programm Logic. Zur Klangbearbeitung benutzte ich Max-MSP-Module und plug-ins von Logic. Die Komposition ist vierkanalig angelegt, so dass am Schluss die Zuspielklänge auf vier Spuren vorlagen, die bei Aufführungen ein quadrophones Panorama abbilden. Hinzu kommen als Synchronisationshilfe eine Klickspur und eine Spur mit Teilnummern-Ansagen. Beide hört der Solist über Kopfhörer. (Siehe hierzu den beiliegenden Text zur Konzertrealisation.)

Die Uraufführung dieser vollständigen Version 4 fand am 23.10.2006 in Köln statt.

Im November 2006 wurden Zuspielklänge, live-Elektronik und der im großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks aufgenommene Solopart im Frankfurter Produktionsstudio des HR zusammengemischt. (Tonmeister: Christoph Claßen)

Die im März 2009 erschienene CD kann, wie bereits oben beschrieben, im 5.1-surround-sound oder Stereo wiedergegeben werden.

S. J. Dragićević
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Aus „Strom fliehender Zeiträume“ für Klavier:

Nr.3: „Quarks“ für Klavier und elektronische Klänge, Version 1 (2001)

Strom fliehender Zeiträume ist ein offener Klavierzyklus, den ich Anfang der neunziger Jahre zu schreiben begonnen habe. Wie der Zyklus selbst, ist auch Quarks eine Art von work in progress, also ein Stück, das sich in der Zukunft noch weiter entwickeln wird.

Der wissenschaftliche Titel dient als Metapher für ein sehr freies Assoziationsspektrum.

(Quarks [kwåkß; engl.], hypothet. ” Elementarteilchen”; aus ihnen und ihren Antiteilchen sollen sich alle beobachteten Baryonen, Hyperonen und Mesonen zusammensetzen.)

Das gesamte Material der elektronischen Klänge wurde an einem Boesendorfer-Flügel aufgenommen und anschließend elektronisch transformiert.

Es sind zwei Verfremdungsebenen zu unterscheiden: Klänge, die dem Klavierklang ähneln und solche, deren Ausgangsmaterial nur noch zu erahnen ist. Der live-Klavierspieler begibt sich in eine konfliktreiche Auseinandersetzung mit einer erbarmungslosen Maschinerie.

S. J. Dragićević
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