Texte über Sascha Dragićević

Programmheft-Text von Egbert Hiller zu Autogamie

Den Titel seines in mehreren Versionen existierenden Stückes autogamie entnahm Dragićević der Biologie. „Autogamie“ bedeutet Selbstbefruchtung, und dieses Phänomen schlägt sich auf konstruktiver Ebene nieder. Zugrunde liegt ein formaler Code von zehn – abwechselnd dynamischen und statischen – Teilen, aus dem sich alle Zeitparameter und musikalischen Gestalten, alle Bewegungsmuster ableiten. Das geht soweit, dass zehn großformale Gliederungselemente jeweils in zehn Phrasenabschnitte unterteilt sind, die wiederum aus zehn rhythmischen Bausteinen zusammengesetzt sind.

Alle Teile der drei Ebenen zeichnen sich durch gleiche Proportionen und Charakteristika aus, worin sich eine ideelle Analogie zur fraktalen Geometrie festmachen lässt.

In den dynamischen Teilen dominieren nervöse mikrotonale Figuren, die kontrapunktisch dicht verwoben sind. „Es herrscht Ruhe- und Rastlosigkeit, die Gestalten“, so Dragićević, „fliegen wie wilde Vögel ohne Verbindung zur Erde umher“.

Dagegen sind die statischen Teile von flächigen und gedehnten Liegeklängen geprägt. Sie bewegen sich wie Pflanzen, die fest im Erdboden verwurzelt sind und sachte hin und her schwingen. Dragićević überträgt diesen Kontrast auf die vier Temperamente. Während er mit den dynamischen Teilen das Sanguinische und Cholerische assoziiert, setzt er die statischen Teile mit dem Phlegmatischen und Melancholischen gleich. „Diese gegensätzlichen Charaktere sind nach meinem Empfinden im Fagott wie in kaum einem anderen Instrument enthalten. Das heißt, dass die Grundidee dieser sehr abstrakten Struktur meiner subjektiven Fagott-Rezeption entspringt.“

Dragićević knüpft nicht am tradierten Fagottklang an, sondern eben am experimentellen Ansatz von Johannes Schwarz. Entstanden ist autogamie in engem Kontakt mit ihm. Die Version 4 für Fagott, Live-Elektronik und elektronische Zuspielklänge stammt von 2005/06.

Zwar ist der elektronische Part unmittelbar in die strukturelle Disposition einbezogen; gerade durch das Zusammenwirken beider Sphären stechen aber, nun im Sinne gegenseitiger „Befruchtung“, auch klangsinnliche Dimensionen hervor. „Die elektronischen Klänge folgen dem Fagott wie der Schweif dem Kometen, sie vollziehen seine Bewegungen nach, umhüllen es, unterstreichen seine Ausbrüche und schweigen, wenn es schweigt.“

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Auswachsungen
Über das Fagott in Zeiten der live-Elektronik

Ausschnitte aus einem Gespräch zwischen Johannes Schwarz und Achim Heidenreich, erschienen im Booklet der CD „più“ / Ensemble Modern / Johannes Schwarz, Fagott / EMSACD-002

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AH: In Sascha Janko Dragićevićs “Piu” für Fagott und elektronische Klänge”, trifft der als einsam hingestellte Instrumentalist auf eine kalte, stählern anmutenden Maschine, das Ensemble, so jedenfalls das Konzept hinter dem Werk.

JS: Diese Mechanik und Motorik wird noch extremer bei den beiden Stücken von Sascha Janko Dragićević radikalisiert als bei Billone. In reiner Atemlosigkeit wird auf den Interpreten keine Rücksicht genommen, der Interpret muss mit seinen Bedürfnissen zurücktreten. Dragicevic nennt das Klangpanorama seines Zuspiels “Stahlklang.” Akustische Gitarren mit Stahlseiten, mit hartem Plektrum gespielt und verfremdete Steeldrums sind die Grundlage dieses Materials. Dagegen muss der Fagottist mit seinem hölzernen Instrument gewissermaßen den intonatorischen Aggregatzustand ändern, um in diesem sinnbildlichen Strudel aus Nägeln und Pfeilspitzen nicht durchlöchert zu werden und unterzugehen. Eine wirklich existentielle Situation, in die sich der Interpret begibt.

Maurizio Kagels gigantistische Musikmaschinen aus den 60er Jahren provozierten ja ebenfalls diese mörderische Wettbewerbssituation, eine Art Russisch Roulette der Töne.

Am Ende des Stücks bricht der jüngste Tag an und die Sargdeckel werden von innen geöffnet. So stelle ich es mir jedenfalls vor.

In “Autogamie (2005/06) Version 4″ für Fagott und elektronische Klänge, ebenfalls in direktem Kontakt mit mir entstanden, wird noch strenger verfahren. Ein Code aus zehn Teilen bestimmt alle Bewegungsmuster der Komposition. Es gibt zehn große Teile, zehn Phrasenabschnitte, zehn rhythmische Bausteine usw. Durch Komprimierung, Dehnung in der Länge, also Dauer, und Streckung in der Höhe, also in den Amplituden, wachsen oder schrumpfen die dynamischen Teile – eine Beziehung zur fraktalen Geometrie ist unüberhörbar.

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PDF “Ausschnitte aus einem Gespräch zwischen Johannes Schwarz und Achim Heidenreich”